Über den Künstler

Das Unbegreifliche sichtbar machen

Von Maria Ilona Schellenberg

„Der seelische Gehalt in der abstrakten Form berührt die Menschen zutiefst.“

Alfred Lichter

In den „Notizen eines Malers“ beschreibt Matisse seine Idealvorstellung zum Schaffensprozess: „Ich will jenen Zustand von Verdichtung der Empfindungen erreichen, der das Bild ausmacht.“ (1)

Der Maler Alfred Lichter hat mit seiner jüngsten Serie „Briefe an Godot“ vermutlich die Bildsprache gefunden, die einem solchen Zustand entspricht. Noch immer geht der 93-jährige Künstler voller Neugier und Entdeckerfreude ans Werk. Die ungebrochene Schaffenskraft des Malers ist faszinierend. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er uns mit weiteren neuen Varianten überrascht.

Blickt man auf sein malerisches Gesamtwerk und frühere Schaffensphasen zurück, so sind darin verschiedene Anknüpfungspunkte an Strömungen der Moderne zu entdecken.  Der Künstler folgte diesen nur zeitweilig. Aufgeschlossen und experimentierfreudig nahm er den einen oder anderen Faden der Moderne auf, um ihn wieder fallen zu lassen, wenn er in seinem Schaffenskontext spürte, in eine Sackgasse gekommen zu sein. Dem Expressionisten Ludwig Kirchner hat Lichter beispielsweise eine ganze Bilderserie gewidmet. Auch die Faszination des Künstlers für Chagall, Jawlensky, Kokoschka, Klee, Miró, Asger Jorn oder Willem de Kooning schimmert in zurückliegenden Schaffensphasen durch. In einer anderen wiederum Werkgruppe, „Siute Africaine“, verarbeitete der Maler Anregungen afrikanischer Volkskunst. Aber auch A. R. Pencks signethafte Darstellungen mögen ihn inspiriert haben.

2007 konstatierte der Maler, dass ihn die vielen Stilwechsel und Experimente seinem künstlerischen Ziel, zur „reinen Kunst“ zu gelangen, kaum näher gebracht hätten. (2)

Sinnlich sind seine Bilder sämtlich. Humor und Heiterkeit prägen das Schaffen ebenso wie tiefer Ernst.  Eine expressive Handschrift zieht sich bis heute wie ein rotes Band durch das Œuvre Lichters, jedoch klammert er im Spätwerk alles Anekdotische aus.

Ende der 1990er Jahre entstand eine Reihe abstrakter Bilder wie „Vor dem Werden“, „Materie entsteht“ oder „Eruption“. Diese Werke verweisen bereits auf eine übergreifende Thematik – sowohl inhaltlich als auch formal. Lichter bezeichnet diese Schaffensphase heute aber als eine des eher „zufälligen Experimentierens“. Er griff auch aleatorische Verfahren wie die Frottage auf und knüpfte mit seiner Serie „Kosmische Impressionen“, Mischtechniken  aus dem Jahr 1999, an den Tachismus an.

Im Rückblick muten diese Bilder wie eine inhaltliche Vorwegnehme der „Capriccios“ (2006 – 2007) an – Kompositionen, die Lichter endgültig vom Gegenständlichen befreit hat. In einem Gespräch mit Werner Krüger zu dieser Werkgruppe sagte der Maler, dass in diesen Arbeiten alle Fäden seiner Existenz und seines Denkens zusammenliefen. (3)

Die Loslösung vom Gegenständlichen eröffnete dem Maler neue Gestaltungsspielräume, die – gepaart mit seiner reichen künstlerischen Erfahrung – nahezu unerschöpflich schienen. Der Zufall kam dem Künstler entgegen, denn er machte eine verblüffende Entdeckung: Farbfleckkombinationen auf Mallappen, mit denen er Pinsel und Palette gesäubert hatte, erwiesen sich als interessante Strukturen und Bildmuster. Der Maler fand auf erstaunlich einfache Weise, was er gesucht hatte: latent vorhandene Bilder. Zweifellos waren die Zufallsstrukturen spannende Anregungen für neue Bildkompositionen. Das Konzept für die „Capriccios“ war geboren. Die Materialien in ihrem eigengesetzlichen Reagieren mit- und zueinander einschließlich der Veränderungen, die sich im Prozess des Trocknens ergaben, brachten immer wieder neue Varianten hervor.  Gern sagt der Künstler in diesem Zusammenhang, die Bilder „malten sich geradezu wie von selbst“. Tatsächlich hatte in diesem Malprozess das vermeintlich Zufällige die Dominanz. Letztendlich aber mussten das geübte Auge und die erfahrene Hand des Künstlers entscheiden, ob das Bildgefüge schließlich gelungen war. Wollte sich keine echte Beziehung der Farbformen zueinander einstellen, überarbeitete Lichter oder er vernichtete das Bild rigoros – immer, wenn die Störungen keine stimmige Komposition mehr zuließen.

Das Malen glich jetzt einem Balanceakt, in dem der Künstler die überraschenden Angebote von Zufallsstrukturen mit seinem ästhetischen Gefühl auf ihre Gültigkeit abwog. Ein solcher Malprozess ist ein lustvolles Spiel mit unberechenbaren Momenten, eröffnet eine unbeschränkte Freiheit und hat dennoch nichts mit Beliebigkeit zu tun.

Es sind die feinen räumlichen Schwingungen und die imaginäre Bewegung zwischen den Farbformen oder zwischen den Bildschichten, die diesen Bildern ihren Reiz verleihen. Ihre immateriellen Energien lösen emotionale Schwingungen beim Betrachter aus.

Die jüngsten Werke sind eine großformatige Serie jeweils vierteiliger Bilder, die Lichter „Briefe an Godot“ nennt. Sie verbindet nicht nur der programmatische Titel, sondern auch die Anmutung, als habe der Maler Sinnbilder für kosmische Strukturen gefunden, für  „das Unermessliche der Schöpfung“, wie Lichter sich in einem anderen Zusammenhang zur natürlichen Existenz äußerte. (4) Bewegt glaubt der Betrachter schauend zu erahnen, was – im Faustischen Sinne – „die Welt im Innersten zusammenhält“. Die emotionale Betroffenheit des Malers überträgt sich in geheimnisvoller Weise auf den Betrachter.

Sporadisch scheinen auch Elemente früheren Schaffens in diesen Werken im dialektischen Sinne aufgehoben zu sein. Deutet sich kürzelhaft im „Zweiten Brief an Godot“ – wie ein erzählerisches Moment – wieder vage Gegenständliches an, so werden auch andere Tendenzen sichtbar, mit denen Lichter – wenn auch auf einer anderen Ebene – an frühere künstlerische Ansätze anknüpft. So betont der „Achte Brief an Godot“ die kraftvolle Geste, während sich die Bildebenen übereinander zu schieben scheinen. Andere Arbeiten sind durch eine zurückhaltende lyrische Sprache geprägt, vermitteln heitere Leichtigkeit wie beispielsweise der  „Dritte Brief an Godot“.

Neben expressiven haben die „Briefe an Godot“ auch zutiefst meditative Komponenten. Zwanzig sind in dieser Serie entstanden. Mal erscheint ein transzendent anmutender Goldgrund, auf dem wie Chiffren wilde, schwarze Bildzeichen liegen; mal entlädt sich auf dunklem Grund ein blau-weiß-rotes Farbengewitter. Aber auch leichte, zarte Pastelltöne können bildbestimmend sein. Die Struktur dieser mehrteiligen Bilder entwickelt Lichter jeweils spontan und intuitiv, ohne auf die vorangegangene Arbeit direkt Bezug zu nehmen. 

Der Titel dieser Serie lässt unwillkürlich an Samuel Becketts Bühnenstück „Warten auf Godot“ denken. Im Stück bleibt bis zum Schluss unklar, auf wen und warum gewartet wird. Die „Briefe an Godot“ des Malers Alfred Lichter sind, wie eine Art Quintessenz, Antworten auf die imaginär im Raum stehende Frage: Was bleibt?

Die Frage nach dem Wesen der Kunst war und ist für Lichter immer untrennbar mit der Frage nach dem Sinn des Lebens verknüpft – Werden und Vergehen inbegriffen. Die Bilder spiegeln das tiefe Empfinden des Malers für die Allgewaltigkeit der Natur und ihre gesetzmäßigen Prozesse. Dabei sind Lichters Intentionen keinesfalls darauf gerichtet, Naturvorgänge abzubilden. Vielmehr findet der Maler kürzelhaft bildhafte Entsprechungen für komplexe Wechselbeziehungen, die er empfindet. Ihre ästhetische Botschaft entfalten die Bilder wie eine Offenbarung. Der Künstler ist in dieser Kommunikation Absender sowie wissbegieriger Empfänger zugleich.

Lichter weiß, seine Antworten sind immer nur Entwürfe – gültige zwar, niemals der Weisheit letzter Schluss. Das macht den Bildentstehungsprozess für ihn immer wieder spannend, hält ihn lebendig und bewahrt den Maler vor Routine.

Auch Lichters Polyurethan-Skulpturen sind in diesem Schaffenskontext zu sehen. Indem der Künstler Bauschaum aus der Kartusche für seine Skulpturen wählte, hatte er nicht nur ein plastisches Material gefunden, das sich wegen seines geringen Gewichtes leicht handhaben ließ. Entdeckerfreudig ließ er sich auch hier auf einen Schöpfungsprozess ein, bei dem die Eigengesetzlichkeiten des Materials und der begrenzte Zufall die endgültigen Formulierungen wesentlich mitbestimmten.

Außerdem experimentierte der Maler mit diesen schaumgeborenen Gebilden nun von der Fläche in den Raum. Meist besprühte er sie noch mit intensiven Farben, um ihre Wirkung zu steigern. Im Ensemble mit den späten Bildern entfalten die Skulpturen ihre Wirkung vermutlich am stärksten und dokumentieren die vitale Kreativität des Künstlers. Es reizt ihn auch, das Arbeiten mit der Skulptur noch weiter zu verfolgen.

Der Maler Alfred Lichter hat sich seine schöpferische Neugier bis ins hohe Alter erhalten. Im Wechselspiel zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit hat er Bilder gefunden, die in ihrer vermeintlichen Einfachheit etwas Wesentliches von der Komplexität unseres Daseins auszudrücken vermögen. In diesem Sinne könnte er von sich sagen, dass er einen Schaffenszustand erreicht hat, den Matisse für einen Künstler als absolut erstrebenswert hielt – lebendig, verinnerlicht und hingebungsvoll Farbe und Form vertrauend.